«You are my real Valentine»

Am Wochenende waren wir nachts unterwegs im Kanton Zürich. Die Stimmung war rau und wir sahen Autos aus allen Schweizer Kantonen, sogar aus Österreich. Angereist auf der Suche nach käuflichem Sex. Wir haben von verschiedenen Frauen gehört, dass die Freier die Preise bis auf 15 Franken drücken. Das Werkzeug, das sie dafür nutzen ist Einschüchterung. Sie sagen den Frauen: Du schaffst illegal an. Du verkaufst dich mir und das darfst du nicht. Die Frauen können sich nicht wehren, weil sie unter dem Druck ihrer Zuhälter und Loverboys stehen oder aus anderen Gründen in grosser finanzieller Not sind. Viele Menschen in der Schweiz erleben während dieser Corona-Pandemie unsichere Zeiten. Diese Frauen aber befinden sich in Ausbeutungssituation oder fürchten sich vor der Obdachlosigkeit, weil ihr Arbeitszimmer zugleich ihr Zuhause ist. Sie müssen arbeiten. Die Freier nützen das bewusst aus.

Wir waren in einem mehrstöckigen Gebäude. Haben auf den einzelnen Stockwerken Frauen verschiedener Nationen angetroffen. Wir verteilten Lebensmittel, Schutzmasken, Desinfektionsmittel und Hygieneartikel. Als wir von Stock zu Stock gingen, trafen wir auch den Aufpasser. Es war ein ziemlich breit gebauter Mann. Als der Mann uns in der Kamera sah, hat er wohl schnell eine Schutzmaske angezogen. Denn er war der Einzige, den wir im ganzen Gebäude mit Schutzmaske antrafen. Kein einziger Freier, dem wir in dem engen Treppenhaus begegneten trug eine Maske. Der Aufpasser sagte: «Was macht ihr hier!» Peter antworte ihm. Und bereits nach wenigen Worte hat er sich uns geöffnet. Er erzählte von sich und von dem, was er erlebt hatte in seinem Leben. Es zeigte sich: Auch er ist in diesem Rotlicht-Schlamassel drin, hat seine Geschichte. Wir hatten ein gutes Gespräch mit ihm. Eingehender haben wir uns aber mit den Frauen unterhalten. Wir haben nicht nur verteilt, was wir dabeihatten, jede Frau durfte sich auch eine von Dorothées Kunstkarten aussuchen. Dadurch konnten wir in ihre Situation rein. So entstanden tiefe Gespräche. Viele Frauen weinten. Überhaupt sahen wir in dieser Nacht viele Tränen.

Die Frauen leben und arbeiten in kleinen, schäbigen Zimmern. Da sind jeweils ein Doppelbett und eine Matratze drin. Sie sagten uns, dass sie zu viert manchmal gar zu fünft in einem Zimmer leben. Die Etagenduschen sind verschimmelt, pro Etage gibt es nur ein WC. In der Küche ist alles kaputt. Die Herdplatten funktionieren nicht mehr, auf jeder Platte stand ein Rechaud-Kocher, auch auf der kaputten Waschmaschine. Pro Woche muss jede Frau 120 Franken bezahlen. Das sind 1920 Franken monatlich für ein einziges dieser schäbigen Zimmer – eine Goldgrube für die Profiteure des Sexgewerbes.  

Wir verteilten ausserdem Präventionsliteratur in unterschiedlichen Sprachen zu Loverboys (Zuhälter, die den Frauen Liebe vorgaukeln und sie mit Manipulation und Gewalt zum Anschaffen zwingen). Und wir gaben den Frauen unsere Kontaktadresse, damit sie Kleider holen oder einen Deutschkurs machen können.

Unser Besuch war um den Valentinstag. Verschiedene Frauen sagten uns: «You are my real Valentine.» Trotz Corona konnte sich viele Frauen nicht zurückhalten und umarmten uns. Eine der Frauen hat sich ganz fest für unseren Besuch bedankt, sie sagte: Das was wir geredet haben, wir nicht einfach nur blabla. Von mir aus dürftet ihr noch ganz lange hierbleiben.

Was wir neben allem Menschenunwürdigem, was wir in diesem Gebäude vorfanden, besonders entwürdigend fanden: Wenn ein Freier kam, musste die anderen Frauen das Zimmer verlassen. Sie warteten auf dem Gang, bis der Freier mit der Frau fertig war. Auch wenn sie am Schlafen war. Wenn ein Freier kam, musste sie aufstehen und im Gang warten. Diese Frauen haben nie Ruhe.

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